“A FUNTANA D’ALTEA”: TRADUZZIONE IN ALEMANU:

Jaques Thiers
 
Die Glyzinien 
von Altea
 
Les Editions Albiana
20170 Levie – Corse
ISBN-2-90512
 
 
Erschienen 1990
Verlag  „ Les Editions ALBIANA“
unter dem Originaltitel  „A Funtana d’Altea“
Das Buch erhielt den Preis „Livre Corse 1991“
 
 
Verweis
Dieser ursprünglich in korsisch verfasstem Roman ist eine Adaptation in französischer Sprache 
und wurde vom Autor selbst realisiert. 
Übersetzung aus dem Französischen in Anlehnung an das korsische Original von Brigitte RANC ZECH
 
 
 
Kapitel 1
Verzeihen Sie mir bitte, werte Freundin, dass ich Ihnen nicht in Ihrer Sprache antworten kann. Zweifellos bin ich auf dieser Insel die einzige Person, die das, was jenseits des Meeres geschah, nicht in seiner Erinnerung bewahrt hat. Ach! das Meer…Und diese Inseln, dort drüben, wo der Blick versinkt. Plötzlich jagt der Wind über die Gipfel, hinunter zum weiten Meer und der Blick folgt… Der frischgefegte Horizont gibt die Sicht auf die langgezogene fragile Linie hinter den Inseln frei. Ein kaltes, hartes Licht enthüllt Italien. Weit weg und zugleich so nah. Wie Sie, werte Freundin, wie Sie. Eine andere Welt. Der Kontinent, den man früher das Festland nannte. Ja, das war Italien. Genau wie Sie, werte Freundin. Oder wie Altea, liebe Freundin , wie Altea. Nein, vor nicht allzu langer Zeit gehörten wir ihr noch zu; die Linguisten behaupten sogar, dass wir Teil des italischsprachigen Areal seien. Des sprachlichen gewiss, aber nicht des musikalischen . 
Dieser schöne Platz  erstand Schritt für Schritt. Seien Sie bitte nachsichtig und schauen Sie nicht auf die Denkmäler, denn auf die können wir wahrhaftig nicht stolz sein. Ich spreche nicht von ihrem künstlerischen Wert, denn davon verstehe ich nichts. Sondern von ihrer Bedeutsamkeit. Ich glaube, dass bei uns weltweit der einzige Ort war, der keine Denkmäler besaß. Das hätte unsere Chance sein können; aber als sie hier angekommen sind, war ihre erste Sorge, uns zwei Denkmäler zu errichten. Denn hätten sie es nicht getan, hätten sie sich hier nicht festsetzen können: sie wären für immer ins Meer gedrängt worden, ohne Hoffnung auf Wiederkehr. 
Die erstarrte Muttergestalt mit tragischer Mine, stellt, so heißt es, unsere Heimat dar, die ihren Sohn in den Rachen des Meeres und des Krieges stößt. Wer hätte sich eine schrecklichere Lektion ausdenken können, als diese Szene in Stein und        5
Bronze zu verewigen. Ich werde Sie unsere Wiegenlieder hören lassen, so können Sie sich davon ein Bild machen, ob diese Opfergabe der Akt einer Mutter sein kann. Unsere Mütter sind wie alle anderen! Schauen Sie sich unsere Kinder an und überzeugen Sie sich davon. Ich flehe Sie an, diese bejammernswerte Darstellung nicht zu beachten. Im Grunde ist es eine riesige Lüge wie so viele andere. Ursprünglich ging es zwar um Krieg, doch die Bedeutung war nicht die Gleiche. Es ging weder um dieselbe Heimat noch um die gleichen Ziele. Vielleicht hatte das Opfern des Sohnes in diesem Augenblick einen Sinn, sowohl für ihn wie für seine Mutter. Ich will hier nicht auf die Details eingehen, um Sie nicht zu langweilen. Doch sollten Sie wissen, dass die Symbole ursprünglich nicht die gleichen waren, und dass es sich hier um eine riesige historische Lüge handelt. Denn im Nach hinein hat man alles vermengt. Und uns damit ganz durcheinandergebracht. Und es ist schon möglich, dass Mütter ihre Kinder opferten, ohne zu wissen, wem. Natürlich sind die Menschen und das schwankende Gedächtnis daran schuld, und zweifelslos auch die Schuld der Sonne. Es fällt leichter, unter diesem Licht, das an allen wirklichen Konturen zehrt, Dinge, Ideen und Wünsche zu vermengen. Heute verhält es sich tatsächlich so, dass sich die Symbole unter dieser Sonne sehr ähneln. Diesen Platz würde ich Ihnen gerne im Winter zeigen, wenn die Platanen ihre kahlen Arme zum Himmel strecken, um diese unmenschlichen Opfergaben zurückzuweisen. Doch werden wir zu dieser Jahreszeit überhaupt von jemand wahrgenommen? Obwohl einem nur zu diesem Zeitpunkt alles verständlich wird. Dieser Koloss eines römischen Imperators verstellt den Blick zur anderen Seite des Platzes. Er verkörpert unseren ganzen Wahn. Eigentlich sollte ich es Schizophrenie nennen, doch gewisse Wörter konnte ich noch nie aussprechen. Sei es nun aus Aberglauben oder einfach nur, weil es schwierig ist, diese auf unseren Sprachorganen zu artikulieren? Ich weiß es nicht. Und will es auch gar nicht wissen. Es ist einfach so. Ich kann es nicht aussprechen.
Wenn Sie auf die Zeichen achten, können Sie unseren ganzen Wahn in seiner Haltung erkennen. Ich erinnere mich an einen Roman, in dem der Schriftsteller sich, an einer gewissen Stelle, darüber ereifert, dass die Bewohner einer sonnigen, am Meer gelegenen Stadt ihre Häuser mit der Hinterfront zum Meer gebaut haben. Wenn man den Glanz der Sonne entdecken will, der sich im Wasser spiegelt, muss der Blick bewusst hinter den Häusern
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danach suchen. Der Schriftsteller wirft der Bevölkerung vor, sich nicht dem Meer, den Reisen und der Ferne zugewandt und nicht die Stadt und das Landesinnere vernachlässigt habe. Doch ganz im Gegenteil ... diese Leute waren gescheit! Da wir das Meer unentwegt betrachten, war es dabei, uns auf alle Fälle zu vernichten. Und es war dabei, uns immer und zu jeder Zeit, mit der Beharrlichkeit der Natur, zu becircen und auszunutzen. Träumend blickt der Imperator aufs Meer. Wie erstarrt in seinen Träumen von Eroberung, Aufbruch und Macht. Genau das wollten diejenigen zeigen, die die Statue in Auftrag gegeben, die sie errichtet haben und die sie seitdem verehren. Da steht der Imperator, stolz und imposant, mit Lorbeeren bekränzt und von Taubenkot umrankt. Er hat nicht einmal bemerkt, dass der Adler zu seinen Füssen einen zerbrochenen Schnabel hat.- Mit der Zeit hat sich der Gedanke in meinen Kopf festgesetzt, dass ich es bin, der dieses Werk vollbracht habe; denn wir kamen jeden Tag mit unserer Bande dorthin, um die Bürgersöhnchen des Platzes zu provozieren.- Ich profitierte von einem Gerangel, steckte einen Stein in die Lasche meiner Zwille und preschte dann vorwärts. Die Gummischnüre bis zum äußersten gespannt und Peng ... in den Schnabel! Inmitten des Geschreies, der Beleidigungen und der Schläge hat niemand das Geräusch gehört. Als wir zur Fontaine Neuve  hochstiegen überflutete mich ein Gefühl wahrer Wonne. Und der Horror eine Art Lästerung begangen zu haben. 
Zwischen den beiden Statuen befindet sich der Musikpavillon. Der zeugte vom selben Geist, denn er erzog uns für den Krieg. Konzerte werden dort seit langem nicht mehr gegeben. Umso besser. In meiner Kindheit sind die letzten Militärfanfaren verstummt. Und es wurde auch Zeit, denn sie dröhnten unser Volk seit mehr als einem Jahrhundert zu. Wir wurden mit Militärabzeichen geboren, wir zogen wie benommen los, kehrten verstümmelt zurück, zufrieden. und mit einer Pension. Dieses der Ferne zugewandte Trio spiegelt unsere gesamte Geisteshaltung wider und fasst unsere Erziehung und unsere Gewohnheiten in einem Bild zusammen. Sie können also feststellen, dass Paris und Rom bei uns präsent sind. Zwei Hauptstädte, doch überhaupt nichts Eigenes. Wir strengen uns an, ihnen respektvoll zu begegnen, während sie sich gegenseitig zerfleischen.  ̶ Bitte, schreiben Sie davon nichts, es könnte mir vorgeworfen werden. ̶ 
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Nein, ich bin erst seit einigen Minuten hier, höchstens eine Viertelstunde. Ich habe nichts bestellt, sondern auf Sie gewartet. Was möchten Sie trinken? Nein, um diese Zeit nehme ich nichts: wegen meiner Leber. Man hat es Ihnen also nicht gesagt, dass wir alle mehr oder weniger leberkrank sind? Nein, lachen Sie nicht; dieses Leiden ist auch ein Merkmal unserer Identität. Sie, die Sie von anderswo kommen, Sie sind alle gleich. Wenn wir scherzen, nehmen Sie uns ernst, und wenn wir ernst sind, brechen Sie in schallendes Gelächter aus. Alles was uns seit zwanzig Jahren zugestoßen ist, geschah Ihretwegen. Alles begann an einem schleppend verlaufenden Sonntagnachmittag in Paris. Wir, einige orientierungslose Studenten, waren trunken von Gesprächen, Alkohol und Tabak. Antoine, der Spaßvogel der Bande, hat uns aufziehen wollen: “Und wenn auch wir unsere Revolution anzetteln würden?“ Zuerst sind wir nicht auf seinen Vorschlag eingegangen, doch dann sollten die Ereignisse, die Ihnen bekannt  sind, Schritt für Schritt an einen Punkt gelangen, um den sie wissen. Dies gab Ihnen gelegentlich die Möglichkeit einen Artikel über die Lage der Insel zu schreiben. Und Sie sind es, die dafür verantwortlich sind: Sie stürzen sich auf das kleinste Ereignis und mit gewaltiger Unterstützung durch Presse, Rundfunk und Fernsehsender, machen Sie daraus eine Staatsaffäre. Sie waren es, die zum Aufstand aufriefen, obwohl wir im Grunde genommen weder Interesse noch Lust hatten uns aufzulehnen. So kam uns ein sich hinschleppender Sonntag ganz schön teuer zu stehen. Was es mit der Lebererkrankung auf sich hat? …Ich kann Ihnen dazu keine medizinische Erklärung liefern. Aber seien wir froh, dass kein anderes Organ erreicht hat. Mich ärgert es nicht, dass es die Leber betroffen ist. Das betont unsere Originalität. Und dann ist da auch noch das Denkwürdige, welches sich mit der Anspielung auf dieses höchst edle Organ einstellt. Es versetzt uns in die Urzeit, in welcher der Mensch noch wusste, wie man den Göttern Ehre erweist. Sollte man später noch solche Opfergaben zu sehen bekommen? Es waren ausschließlich Opfer von Hähnen und Geflügel, Hühnchen und Küken, Stieren und ganze Kälberherden. Wenn wir uns daran, und sei es nur für einen Augenblick, erinnern, färbt sich unser Gedächtnis blutrot . Zu jener Zeit floss das Blut in Strömen. Beachten Sie bitte, dass wir, was die Menge anbelangt, den Vorvätern in nichts nachstehen. 
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Doch verhält es sich anders, was die Eleganz und die Raffinesse betrifft. Selbstverständlich, obwohl wir nicht aus der Übung gekommen sind, wenn es ums Abschlachten geht und obwohl wir Christen sind, morden wir aus Leibeskräften genauso wie wir essen, atmen, und alltägliche Dinge verrichten. Und im Übrigen verfügen wir sehr wohl über Reue und alles, was damit zusammenhängt und in unseren philosophischen und religiösen und politischen Lehren zu finden ist; und, wenn das nicht genügt, verfügen wir auch über einen Restbestand aufrichtigen Bedauerns. Zu jener Zeit, wurde getötet, abgestochen, abgeschlachtet, doch man tat es auf elegante Weise, mit Würde und Noblesse, die den antiken Kulturen Bewunderung einbrachte. Ihr künstlerischer Sinn stimmte übrigens mit einer vorsichtigen und bedachten Wirtschaftlichkeit überein: Man warf nichts weg, nicht mal die minderen Stücke. Die Verteilung erfolgte ganz demokratisch: Die besten Stücke fielen dem Klerus zu, der Rest ging aber nicht verloren, und die Menschen fanden sogar Gefallen daran, denn sie verstanden immer, Wünsche mit den zur Verfügung stehenden Mitteln in Einklang zu bringen. Ich bedaure, dass unsere Zeitgenossen nicht in der Lage sind, diese banale Feststellung zu treffen und sie nutzen, um die eigenen Ziele zu erreichen. Die an Leib und Seele nagende Melancholie erklärt sich aus dem Verlangen, die Stücke der Anderen zu begehren, während wir unsere Innereien verkommen lassen.
Ich bin mit dieser für unsere Identität typischen Krankheit nicht unzufrieden, denn für die früheren Völker des Mittelmeerraumes, die hier vor Urzeiten an Land gingen, galt die Leber als Sitz jeglichen, affektiven Lebens. Heutzutage platzieren wir dieses im Herzen und ich bin mir nicht sicher, ob wir damit Recht haben. Vor allem, weil wir es beim Lieben, beim Hassen und vor allem beim Grollen übermäßig beanspruchen. Erinnern Sie sich an den, an einem hochragenden Pflock angebundenen Unseligen, dem ein wütender Raubvogel die Leber aufpickte?  Na gut! Es fehlt nicht viel, und wir sind so wie er. 
Doch kurz und bündig gesagt, sind wir gleichzeitig Peiniger und Opfer. Lesen Sie unsere Geschichte und urteilen Sie selbst. Ich weiß nicht, wie man sie nennt, aber sie greift die 
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Leber an. Ihr Name…ihr Name…vielleicht Thalassämie . Die Thalassämie existiert, doch ich weiß nicht, ob wirklich ein Zusammenhang mit der Leber besteht. Sie ist zweideutig, ebenso schädlich wie wohltuend. Eine Krankheit, die andere schwere Krankheiten verhindert. Wenn sie uns von anderen Leiden verschont, umso besser! Doch ich selbst glaube kaum daran. Genaueres darüber habe ich nie wissen wollen, denn die Medizin interessiert mich nicht. Thalassämie… Ein sanftes, poetisches Wort wie der Name einer seltenen Blume. Sie lächeln, werte Freundin? Und doch geht es um ernsthafte Dinge. Sicher weniger ernst als die Epithelioma  Ihres berühmten Schriftstellers , Sie wissen schon, desjenigen, der an einer bösen Erkrankung litt, die ihn befallen hatte  und ihm, wie er mit tragischer Ironie formulierte, eine „Blume am Mund“  hinterließ. Noch sind wir nicht soweit, Gott sei Dank, aber wir steuern darauf zu. Oh, ja! Uns wurde ein besonderes Forschungslabor eingerichtet, um weitere Merkmale unserer mediterranen Identität zu erforschen. Dort wird bis hin zu den Tieren beschrieben, untersucht und analysiert. Schweine, Pferde, Insekten, Kröten und was weiß ich, und natürlich ganz zu schweigen von allen Ziegenarten! Sehen Sie, bei uns läuft, springt, iaht  und blökt die Identität um die Wette. So sind wir: identisch mit denen hier, aber unterschiedlich zu jenen da. Um nicht zu sagen identisch mit uns und unterschiedlich zu uns. Doch was die Thalassämie angeht, wäre es wahrhaft schade daraus zu schließen, wir seien mit einem rassischen Identitätsmerkmal behaftet. Die Genzellen aufschlüsseln zu wollen, hieße mit dem Latein am Ende zu sein. Nein, das heißt nur, dass man solche Fragen nicht vernachlässigen kann, wenn man versucht Dinge zu verstehen.
Seien Sie nicht über die saure Miene des Wirtes erstaunt, den sein Broterwerb eigentlich freundlicher stimmen sollte. Er sieht aus wie ein, bei uns würde man sagen,  ungeleckter Bär , aber er hat eine sehr empfindsame Seele. Zweifellos haben Sie die einschlägigen Werke über die Sitten dieses Landes und seiner Bürger gelesen. Wir kamen auf diese Weise zu einem schlechten Ruf, den wir keinesfalls verdienen. Ich sehe, dass Sie die Stirn runzeln, liebe Freundin. Doch seien Sie versichert, ich werde Ihnen nicht auch noch von den Demütigungen, Geringschätzungen und Verfluchungen erzählen,      10
      
mit denen uns Reisende, Soldaten, Richter und Gouverneure, die eines Tages an unseren Küsten ans Land gingen, in ihren Berichten bedachten. Es ist wahr, wir sind stolz; selbst wenn wir einen Beruf ausüben, der anderswo Menschen dazu brächte, mehr auf ihren persönlichen Vorteil bedacht zu sein, und folglich auf das Wohlergehen und -befinden ihrer Kunden, seien es Stammkunden oder durchreisende Touristen: Denn erstere muss man an sich binden und letztere besser ausnehmen. Sollten Sie diesen unseren Charakterzug unbeachtet lassen, befürchte ich, dass die Chronik, die Sie schreiben wollen, voller Fragezeichen sein wird. Das täte mir Leid für Sie, denn Sie sind nicht wie die anderen. Als Sie eintraten, glaubte ich Altea zu sehen.
Hier trinkt man den Kaffee auf französische Art, wie Sie zu sagen pflegen. Man kann sogar hinzufügen, dass er in den meisten Fällen nur Wasser ist. Nein, danke; Ich habe seit Jahren keine Zigarette mehr angerührt. Überhaupt nicht, das hat nichts mit tugendhaft zu tun. Die Wahrheit ist die: Wir sind nicht viele, also müssen wir auf umsichtig mit uns umgehen. Denkende Menschen sollten einige Vorkehrungen treffen, um die Zukunft nicht zu gefährden. Hören Sie auf die Augen aufzureißen, denn so ähneln Sie ganz und gar Altea, und ich möchte nicht an eine Gefühlsbeziehung anzuknüpfen, die nur dauerte, solange ich mein Gegenüber in Erstaunen versetzen konnte. Das sage ich weder aus Anmaßung noch aus Eitelkeit. Es geht um eine andere Art von Aktivismus. Selbstverständlich ist es ein Opfer, aber sein Preis ist nicht so hoch! Wir halten uns an der Hoffnung schadlos. Altea machte sich, genau wie Sie, über diese Vorsichtsmaßnahme lustig. Und damit glitt mir der Faden aus der Hand.
Wie mein Tag üblicherweise abläuft? So hatten Sie es aber nicht am Telefon formuliert. Es ging darum einen Zeugen zur Krise zu befragen, einen Intellektuellen, das ist alles. Als ich hierher kam, war ich ein wenig beunruhigt. Ich glaube nicht, dass es bei uns wirklich Intellektuelle gibt, denn wir haben alle in unseren Köpfen eine Schicht Humuserde, eine Prise Dung und eine Spur Mist. Doch mit Intellektuellen kann ich Ihnen wirklich nicht dienen. Aber ich bin über die Ehre erfreut, in einer Zeitung wie der Ihren zu sprechen. Verstehen Sie deshalb bitte, dass ich auf eine solche Veränderung des Vorhabens nicht gefasst war. 
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In der Regel bitten uns die Journalisten um eine Unterredung, in der sie über die Vergangenheit und die Zukunft informiert werden wollen, über die früheren und heutigen Traditionen, die Politik und die Gewalt, die Ideologie der Autonomie-Bewegung, alles uns vertraute Themen, die wir gewohnt sind abzuhandeln und zu erklären. Das ist einfacher. Doch Sie … nicht, dass mir die Idee missfällt, aber, ganz ehrlich, sie irritiert mich ein wenig. Solange Sie nur unsere Gemeinschaft sichtbar machen wollen, geht das in Ordnung. Doch Sie suchen das Individuum, das Innerste der Persönlichkeit, das Porträt eines Charakters in seinen alltäglichen Erlebnissen und Taten. Ich fühle mich geehrt, dass Sie mich ausgewählt haben, doch diese Dinge kommen nicht von selbst. Versprechen Sie mir, ein Pseudonym zu verwenden, andernfalls kann ich nichts sagen. Letztlich werden wir alle früh oder später beurteilt. Je mehr sich diese Stunde  herauszögern lässt, umso lieber ist es mir.
Ich versuche Ihnen darzulegen, was Sie von mir erwarten, doch ich sehe nichts Interessantes darin für Ihre Leser. Wie sieht mein üblicher Tagesablauf aus? Es wird mir nicht gelingen Ihnen diesen zu beschreiben, wenn Sie mir nicht dabei helfen … Gut! Als ich Altea bat, mir beim Sprechen behilflich zu sein,  schwieg sie anfangs ebenfalls. Ich habe nicht lange gebraucht um herauszufinden, dass dieses Schweigen bei Gesprächen zu eurer journalistischen Taktik gehört.
Ach ja, ich könnte Ihnen etwas über diesen Ort erzählen. Ansonsten weiß ich nicht was ich sagen soll. Aber, sein Sie unbesorgt, ich weiche nicht vom Thema ab. Der Ort ist wichtig für uns. Sehen Sie sich um, worauf blicken Sie hier? Das Meer, den Himmel, und darüber die Sonne, nicht wahr? Nun ja! Für mich sind es vor allem die Platanen.  Wenn Sie die Platanen nicht wahrnehmen, lassen Sie zugleich den Platz verschwinden! Solange ich mich erinnere, sind die Platanen für mich das Wichtigste … Heute bin ich mehr denn je davon überzeugt, denn mit zunehmendem Alter habe ich beschlossen, das Spezifische jedes Augenblickes zu erfassen und den Blick auf ein gewaltiges Vorhaben zu richten, das eher vom Stolz hochgehalten wird, als von der Liebe zur Wahrheit. Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird, mich klar auszudrücken, denn ich wollte es eigentlich schriftlich fixieren. Das war auch ein bisschen der Grund, dass ich hier her gekommen bin. Es geht um ein Buchprojekt. Die Platanen nehmen darin einen zentralen Platz ein. 
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Und dennoch sind es die Platanen, die mich davon abhalten. Denn die Schwierigkeit besteht darin, dass diese Baumart in der Literatur noch nie thematisiert wurde. Und dennoch ohne Platanen hat das Buch keinerlei Sinn mehr. Zumindest, was diesen Platz angeht. Es wäre etwas anderes gewesen, hätte es sich um Kastanienbäume gehandelt. Man hat nicht auf mich gewartet, um ein Buch über Kastanienbäume zu schreiben. Kastanienbäume und Farnkraut . Über diesen Platz erzählte und schrieb man, er sei ein von Feuer und Tinte durchdrungenes Farnfeld . Und dieser fürchterliche Lärm beim Abholzen der Kastanienbäume. Haben Sie bemerkt, dass die Dichter nur selten von Platanen reden und die Maler nicht einmal von ihnen hören wollen? Abgesehen vom Fanatiker mit dem abgeschnittenen Ohr , können Sie lang nach anderen Malern Ausschau halten. Denn der Platz ohne Platanen ist nicht mehr der meine. Ohne Platanen ziehen die Tage vorbei und alle Augenblicke gleichen sich. Ich erzähle Ihnen das auf meine naive Art, liebe Freundin, ich rede so dahin, weiß aber was ich meine. Der Versuch, Erinnerungen zu bewahren und im Gedächtnis unversehrt zu erhalten, ist zweifellos Irrsinn, wenn man und sei es nur für einen Augenblick gewollt ist, die unendliche Dehnung der Zeit in Betracht zu ziehen. Glücklicherweise wissen wir, dass es nichts anderes zu tun bleibt. Anderswo kann man anscheinend wählen, hier kann man es nicht… Die Kenntnis dieser Grenzen wappnet uns mit der unerschütterlichen Geduld von Menschen, die unweigerlich sogenannte Tage ohne Hoffnung auf Wiederkehr zählen. Es gibt Leute, die behaupten, dass wir nur Schall und Rauch in Bewegung setzen. Sie haben sicher Recht. Es ist jedoch unsere einzige Pflicht, unser einziges Ziel, an Ort und Zeit festzuhalten und genau das tun wir! Aber wir hegen auch die Hoffnung, im Laufe unseres Weges, die Zukunft ein wenig in Bewegung zu setzen.
Ich kenne die Platanen seit meiner Kindheit, seit über fünfzig Jahren. Wir waren eine Horde von Bengeln, die hierher kamen, um Kronkorken  aufzusammeln. Wir kamen von den Vierteln herunter, die sich im Laufe der Geschichte unserer Stadt an einander gefügt hatten. Ich kann Ihnen weder Genaueres über die Kronkorken erzählen, noch über den Wunsch, sie aufzusammeln. Außer, dass es Verschlüsse von Limonade- oder Mineralwasser-Flaschen waren. In dem Viertel in dem wir wohnten, gab es derartiges nicht, denn
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in den Gaststätten wurde nichts anderes als Wein in Gläsern ausgeschenkt – aber die heruntergeschluckte Menge machte die eintönige Flüssigkeit wett, und dabei erzähle ich Ihnen nichts über den Zustrom, den der Wirt auslöste, sobald er an der Fassade einen Strauß aus Blättern anbrachte, der auswies, er habe guten oder neuen Wein erhalten. Wir waren somit gezwungen, unsere Grenzen zu überschreiten und strömten hier auf den Café-Terrassen des Platzes, zusammen. Das spielte sich zu der Zeit ab, als die Kellner die mit Flaschen und Gläsern beladenen Tabletts noch auf ihrem Zeigefinger jonglieren konnten. Die Kinder umrankten ihn und sammelten die Kronkorken auf. Mehr als einmal ereiferte sich der Wirt und lief uns nach, denn er hatte uns Horde von Bengeln nicht gerade in sein Herz geschlossen. Das hieß für uns, so schnell wie möglich wegzulaufen und keine Zeit zu verlieren. Wir liefen weg, aber kehrten wieder um. Wir kamen zurück, um die Kronkorken aufzusammeln. Wir ließen die meist Verformten liegen und hoben die anderen auf, um sie, einmal im Viertel angelangt, mit einem spitzen Stein wieder zurecht zu schlagen. Wir drehten sie um, entfernten aus dem Inneren das metallschützende Korkplättchen und gaben ihnen mithilfe kleiner Steinschläge geschickt ihre ursprüngliche Form zurück. Ich habe nie gewusst, wofür dieses hartnäckige Aufsammeln gut war, das uns weiß Gott nichts als Schelte und Schrecken einbringen konnte. Ich habe mich dies mehr als einmal gefragt, aber niemand hat mir jemals den Sinn eines solchen Spiels erläutern können! Vielleicht waren die Kronenkorken an und für sich weniger wichtig für uns …. Doch bot sich uns damit nicht die Gelegenheit, einer Gesellschaft, die wir für spießig hielten, zu zeigen, dass wir von einem ganzen Territorium einer Stadt profitieren wollten. Einer Stadt, in der nur die Macht des Geldes zählte, obwohl die mühsame Arbeit in ihren Viertel sie unterstützte? ... Man hatte uns von diesem Platz verjagt, also galt es, sich zu rächen: Wir sammelten alle diese Kronenkorken auf, um so vielleicht einen nahenden sozialen Kampf anzukündigen. Rache mit Kronenkorken: Wie lächerlich. Und hier liegt der Grund, warum die Platanen für uns, die Städter, das Gefallen am Kampf gegen Beleidigung und Ungerechtigkeit verkörpern. Tritte in den Hintern, die man übler Weise einkassieren musste, weglaufen bis man außer Atem war und erst in dem Moment, wenn man sein Territorium erreichte, wieder durchatmen und einen Gegenangriff planen konnte.
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Ich war bereits erwachsen, als ich diese Platanen im Winter malen wollte, ganz feucht, unter dem grünen Licht der stilvollen Straßenlaternen des Platzes, aber ich habe sie wachsen lassen, ohne jemals nur zu versuchen, mein Vorhaben zu verwirklichen. Ich habe eingesehen, dass es nicht möglich war, ganz abgesehen von den Kronenkorken, auch zusätzlich zur erstarrten Mutter, zum schizophrenen Imperator und zu den stummen Fanfaren, auch noch das  gellende Gelächter hinzuzufügen, das mich eines Abends, als der Frühlingsanfang sich verzögerte, aufweckte. Dieses andere Gesicht des Wahnsinns hat mich dermaßen geprägt, dass es mir unvergesslich geblieben ist. Stellen Sie sich einen noch jungen Mann mit einem feurigen, glühender Kohle gleichenden Blick vor, der auf eine Platane geklettert war und im strömenden Regen, wie er im Monat Februar herunterprasselt, lachte. Er war da, und das Bild geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Es war mitten in der Nacht, anfangs Februar. Es dürfte eigentlich … unnötig sein das Datum zu präzisieren, denn solche Ereignisse lachen vorbeiziehender Jahre. 
Es hieß in der Stadt, der Mann habe eines Tages in Algerien seinen Verstand verloren. Sie waren wie gewöhnlich auf Patrouille gegangen. Weder ruhiger noch gefährlicher als andere Patrouillengänge. Und dann, als er angehalten hatte, um – verzeihen Sie mir – ein natürliches Bedürfnis zu verrichten, konnte er in dieser orientierlosen und menschenlosen Gegend, wo koloniale Unterdrücker hinter jedem Grasbüschel Fallen mit bewaffneten Schützen platziert hatten, seine Kameraden nicht wiederfinden. Und plötzlich hatte er Schüsse gehört, und dann nichts mehr. Kein Geräusch auf diesem sandigen Grund. Stille und Gluthitze in einem Land, in dem die Luft brannte. Nach stundenlangem Herumirren hatte er sie wiedergefunden. Entblößt, längs hingestreckt lagen sie im Staub, mit durchgeschnittener Kehle. Aus diesem Grund, strich er seitdem auf Straßen, Gassen und Plätzen herum. Von Zeit zu Zeit schüttelte ihn ein irrsinniges Gelächter, mit Schaum vor dem Mund ahmte er das Knattern eines Maschinengewehrs nach und mit ungeschickter Hand erdolchte er die Luft. In der Nacht, in der ich ihn sah, war er auf die Platane geklettert und sein Gelächter hatte mich bis ans Fenster getrieben. Er saß rittlings auf einen dicken Ast. Das ganze Wasser der Nacht 
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rann von seinen Schultern. Ab und zu hob er den Kopf und trotzte den Blitzen. Er glich einem Gespenst. Nun, malen Sie doch mal Gespenstisches auf eine Leinwand. Nach dem Ereignis gelang es mir mit der Zeit eine gute Ausrede zu finden. Wenn mich jemand fragte, warum ich die Malerei aufgegeben hätte, da doch meine Anfänge im Bereich der Kunst vielversprechend waren, antwortete ich, dass ich nun einmal nicht über das Talent verfüge, das einen  wahren Maler ausmacht, der seine Kenntnisse vertieft hat und dem es dank seiner technischen Fertigkeiten gelingt, alles entsprechend der Idee, die sich in seiner Fantasie geformt hatte, umzusetzen.
Doch ich hatte das Problem dieser Platanen nie lösen können. Sie drängten sich geistig meinem Gemüt so auf, wie ich sie reell gesehen habe und werfen zugleich, ohne jegliche Änderung, den abstrakten Inbegriff einer Form von Bitternis zurück, die mich vollkommen überwältigt, wenn ich mich mit den Jahreszeiten befasse. Und vor allem, wenn ich den Begierden Gehör schenke, die ich noch nie zu befriedigen wusste.
Also hatte ich mich entschlossen, die Platanen zu vergessen oder ein Buch zu schreiben, in dem diese den zentralen Platz einnehmen und mein vergangenes Leben enthalten könnten, ohne die Begierden und aktuellen Ereignisse zu verschleiern, doch zwischen Glas und Lippe gibt’s noch manche Klippe .   Somit habe ich dieses Buch nicht geschrieben und ich glaube auch nicht, dass man es schreiben könnte.
Haben Sie gesehen, wie einer aus der Gruppe der jungen Leute, die am Tisch sitzen, mich begrüßte: Sein Gruß deutete eine gewisse Verbundenheit und vielleicht sogar ein wenig Respekt an. Sollte etwa sein Vater oder ein Familienmitglied ihm gesagt haben, wer ich bin? Ich nehme eher an, dass dieser Gruß auf das Image zurückzuführen ist, das mir wahrscheinlich meine schriftstellerischen Arbeiten eingebracht haben und ohne dass ich es gewollt hätte. Ich denke, dass ich nicht übermäßig von mir eingenommen bin, aber die Genugtuung, die ich empfinde, wenn ein Unbekannter mich grüßt, lässt mich vermuten, dass ich eine gewisse Selbstgefälligkeit besitze, etwas, was ich Ihnen gegenüber nur zugebe, weil Sie Altea ähneln. Doch das erklärt nicht alles, denn Eigenschaften wie Stolz und Selbstgefälligkeit sind bei uns nicht so selten. Vergessen Sie nie, dass wir keineswegs zahlreich sind und dass ihre Kollegen auf dieser Insel aus Begegnungen mit lokalen Berühmtheiten schöpfen, um ihre Zeitungskolumnen zu füllen, 
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indem sie auf lokale Berühmtheiten zurückgreifen. Nein, ursprünglich ist das Gefühl, das ich zweifellos als Vergnügen bezeichnen sollte, ist meiner Meinung nach weniger affektiver als geistiger Natur und es würde mich nicht wundern zu erfahren, dass es daher rührt, dass ich in der Öffentlichkeit als die Persönlichkeit voller Selbstbewusstsein, Ernsthaftigkeit und Intelligenz gelten kann, und sie meiner Natur zuschreibt. Ein Mann, dem man nachsagt, er erwäge unablässig bedeutende Projekte, und der, gedankenvoll, auf die Vollendung eines großen und würdigen Werkes im Interesse der Allgemeinheit zugeht. 
Genauso trete ich auf und ich bekenne, dass ich keinerlei Lust verspüre, die Auswirkung des mir verliehenen Ansehens abzulehnen. In der ersten Zeit nach dieser Entdeckung, fühlte ich mich beim Beobachten des gewaltigen Unterschiedes, der – wie sagt man doch noch – zwischen meiner sozialen Erscheinung und meiner reellen Natur besteht, ein wenig beschämt. Später habe ich gelernt, mich mit dem Gegebenen zufrieden zu geben, was mir eine äußere gelassene Haltung und einen gewissen inneren Frieden gewährleistet: Nehmen wir einfach an, dass genau das Kultur bedeuten dürfte…Ich hoffe, dass diese Gegensätzlichkeit Sie nicht erstaunt, werte Freundin,  denn ich führe sie hier nur an, um meine Erklärung auf rhetorischer Ebene zu untermauern. Gewöhnlich gebe ich mich nicht auf diese Weise preis und ich rede mit Ihnen so, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Nicht nur unsere gemeinsame Freundschaft zu Altea treibt mich dazu, sondern auch die Tatsache, dass meine derzeitige Situation es nicht möglich macht, eine solche Finte gänzlich zu verheimlichen. Durch das Leben in diesem Zwiespalt zwischen meinem öffentlichen Ansehen und meinem wirklichen Charakter, sage ich mir, dass er im Grunde genommen nicht so selten sein kann, da ich mich damit ohne exzessive Skrupel noch ohne große Schwierigkeiten in Einklang befinde. Kultur, Natur und Figur  sind die drei Spitzen des semiotischen Dreiecks, welche unsere gesamte Lebensart erklärt. Ich konnte mich ebenfalls davon überzeugen, dass dieser sogenannte Frieden, den ich mit mir selbst geschlossen habe, in hohem Maße der Idee zu verdanken ist, dass ich für Außenstehende genau die Person bin, die man in mir sieht. Somit holt mich oft eine offensichtliche Idee ein: Dieser Irrtum der Anderen räumt die ewige Ungewissheit mir selbst gegenüber aus. Gehen wir noch weiter und dringen wir in noch höhere  Sphären vor: Und ich werde Ihnen dann sagen, 
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dass die an mich selbstangewandte psychologische Analyse mich ebenso zufriedenstellt wie die angewandte Methode, mit der ich Sie beschrieben habe. Ehrlich gesagt, denken Sie nicht ernsthaft, dass es nur an wenig fehlt, um daraus ein Sprichwort oder einen moralischen Sinnspruch zu bilden? Ich habe es bereits niedergeschrieben, aber ich möchte an den Gedanken wieder anknüpfen, ihn tiefer ergründen, um die philosophische Substanz zu extrahieren und diesem Urteil die allerletzte Form geben. Es könnte daraus ein wichtiger Denkanstoß und eine erste Formulierung eines psycho-soziologischen Gesetzes entstehen, die kleinen Gesellschaftsformen oder Menschen, die etwas realisiert haben, zur Verfügung stehen. So könnten diese, ohne dass der eigentliche Wert der Realisierung beachtet wird, darüber hinaus die naive Bewunderung ihrer Mitbürger ernten und für die Einfallsreicheren unter ihnen, die der jungen Generation. Sie sind sicher überrascht mich dermaßen eitel, sogar selbstgefällig zu erleben. Nein, widersprechen Sie mir nicht, ich kann es Ihnen ansehen. Sobald Altea meine Beichte gehört hatte, lehnte sie meine Sinneshaltung eindeutig ab und wir hätten uns beinahe nach dieser ersten Begegnung getrennt. Aber das ist egal, denn es tut mir gut. Ja, Sie sind mein Spiegel. Was die anderen, die Griesgrämigen unter uns, betrifft, die höre ich schon reden. Sie werden sagen, dass solche Nichtigkeiten sich nur schwer mit dem Projekt einer Chronik über unser Land und Identität vereinbaren lassen. Nein, lassen Sie mich fortfahren; man müsste in der Tat naiv sein um nicht zu bemerken, dass Sie eigentlich, unter dem Vorwand jemanden zu befragen und dessen Tagesablauf zu beschreiben, ein Porträt aller Bewohner und deren Gemüt und Gewohnheiten erstellen wollen. Denn ist ein Tag im Leben eines Schriftstellers von hier nicht identisch mit dem eines Schriftstellers von anderswo? Für die einen ist Schreiben ein Beruf, für die anderen eine Freizeitbeschäftigung, denn wir werden selten gelesen und dementsprechend reicht es aus, dass wir hier und da etwas schreiben. Doch es gibt es kaum große Unterschiede, was den Rest anbelangt. Sie haben sich selbst verraten, meine Liebe: Die großen Tageszeitungen interessieren sich nicht für die Identität eines Schriftstellers. Geht man vom Renommee ihrer Zeitung aus, handelt sich um etwas anderes. Schließt Individuelles nicht Generelles in sich?  Es ist ein unterhaltsames Spiel, aber so leicht könnt Ihr uns nicht reinlegen. Sie tauchen hier inmitten totaler Unordnung auf.
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Gestern hatten wir eine politische Krise, heute ist sie sozialer Art. Sie haben zu jedem Konflikt, jeder Debatte an jeder Straßenecke  Position bezogen und nun wollen Sie, dass wir Ihnen das hier abnehmen?  Aber auch das ist ohne jegliche Bedeutung, denn wir haben nicht oft die Gelegenheit über unseresgleichen zu reden, denn es ist immer die Gesellschaft, die den Kern der öffentlichen Debatte bildet. Sehen Sie, wenn sie einverstanden sind, könnten wir einen Pakt schließen und weitermachen. Ich tue so, als würde ich glauben, dass Sie sich für mich interessieren, und sobald Sie bemerken, dass ich abschweife, bringen Sie mich vorsichtig wieder auf den richtigen Weg und bringen mich aufs Neue dorthin, wo Sie gern hätten, dass ich mich hinbewege. So könnte es klappen: Jeder stellt sich vor, er gehe seinen eigenen Weg und ziehe daraus seinen Vorteil. Wenn man nicht so tut als ob, kann man sich auch nicht austauschen. 
Nun da wir übereingekommen sind, will ich meine Griesgrämigen nicht ohne Antwort lassen. Insgesamt gesehen haben sie nicht Unrecht, abgesehen von der Tatsache, dass Sie es waren, die mich dazu geführt haben, die von uns gemeinsamen fixierten Prioritäten zu verlassen. Ich hätte Lust das Gleiche zu sagen wie die … Die Gemeinschaft erlaubt uns ohne die Menge Sorgen zu leben, die dem Menschen zusetzen, wenn er als Individuum auftritt. Unter diesen Umständen ist es gefährlich auf dem Individuellen, Besonderen, auf dem halbklaren, halb unverständlichen Gefühl zu beharren; das veranlasst mich zum Nachdenken, dass es keine Zukunft gibt für das, was ich sehe, was ich denke und was ich empfinde. Das ist auch nicht verwunderlich. Wer weiß schon wohin das führt, wenn man die Zügel, die man straff angezogen hält, zugunsten des Individuellen in einem schleifen lässt. Unsere Vorfahren hatten dies sofort begriffen. Sie sorgten vor, indem sie jede Geste und jedes Wort unter Kontrolle hielten, um sie nach dem Prinzip des gemeinschaftlichen Maßstabes zu beurteilen. Und daraus entstanden Traditionen und volkstümliche Sprichwörter. Und demzufolge ist es ihnen im Laufe der Geschichte fast gelungen aus einem Bedürfnis eine Tugend zu machen. Ihre bizarren Fragen sind daran schuld. Sie tauchen hier auf und zerstören alles. Das Werk von Jahrhunderten. Eine Lebensregel, die mithilfe feinsinniger Konzessionen aufgestellt wurde, die von Tag zu Tag angepasst und wieder aufgegriffen wurde, eine stillschweigende Billigung, doch äußerst eindeutig für beide Gesprächspartner. Gut einstudiertes Schweigen, Drohungen und Verurteilungen, die sich jedoch auf einen bändigenden feurigen Blick beschränken,
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der aber schnell verlöscht. Aber vor allem die abgeblockten Wörter, um die man in der Diskussion tausend Mal herumredet. Das ist eine Mauer, die im Schweiße des Angesichtes, nach vielen Prüfungen errichtet wurde. Stellen Sie sich das nur einmal vor! Genau das werden die sagen …
Sie jedoch, sie kommen in einem Land an, wo Gleichmaß herrscht und jeder seinem Nächsten gleicht; Sie treten in einen Ameisenhaufen und jeder findet zu seiner natürlichen Individualität zurück. Daher kommt die Nostalgie. Ihr, die anderen Journalisten, ihr zerstört die Kultur und ihr sät die Nostalgie, denn ihr zwingt uns, über jene Details zu reden, die die Einheit der Denkens und Verhaltens schaden. Auf diese Weise wird die Nostalgie geweckt und die Willenskraft geschmälert. Sie kommen hier an, Sie bringen uns zum Sprechen und wir stehen ohne Verteidigung da. Und das ist umso frecher, da wir nicht daran gewöhnt sind. Genau das würden die sagen. Und ich sage es Ihnen auch.
Doch wie dem auch sei, besteht weder eine sehr große Gefahr noch eine große Frechheit. Ich glaube nicht, dass jemand, der die Wahl getroffen hat in der örtlichen Sprache zu schreiben, so exponiert wird wie die sich der Hochsprache bedienenden Schriftsteller. Wir, die unbedeutenderen und intellektuellen Schriftsteller der Provinz, haben freies Spiel. Diese Freiheit wird uns von der eingeschränkten Anzahl der Leser eingeräumt. Es ist schon ein Erfolg, wenn jeder von uns hundert treue Leser hat. Früher sah ich das anders. Ich erhob den Anspruch, dem Kreis der Schriftsteller anzugehören. Dort gibt es weder hohe Schreibkunst, noch gemeine. Weder Mehrheitssprache, noch Minderheitssprache. Einfach nur die Schreibkunst. Und davon war ich jahrelang überzeugt und dann, eines Tages, habe ich die Lektion begriffen. Einige unter uns fanden sich zusammen, um über banale Fragen zur Literatur zu diskutieren. Wie alle anderen vertrat ich mit Entschiedenheit und Nachdruck meine Meinung auf eine Art, die mein eher schüchternes Wesen früher nie zugelassen hätte. Beim wohlwollenden Lachen der gesamten Zuhörerschaft habe ich alles verstanden. Doch aufgrund der festen Überzeugung jedes Teilnehmers oder der Getränke, die bei solchen literarischen Begegnungen immer reichlich waren, hatte sich unsere Diskussion zugespitzt. Wir bewarfen uns mit Worten, die man nur benutzt, 
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wenn man weder Lust verspürt noch die Möglichkeit hat zu argumentieren. Irgendjemand sprach von einem micro-regionalen Schreiberling. Das machte mich erst einmal sprachlos, und dann, sagte ich mir, dass ich Ihnen den Knüppel zugeworfen hatte, um Prügel zu bekommen. Ich fühlte mich verletzt, und -das gebe ich zu- es schmerzt mich noch heute mit der gleichen Intensität, wie damals. Was konnte ich tun? Ich kaufte mir diesen dorfüblichen Anzug und setzte mir den breitkrempigen schwarzen Filzhut der Regionalliteratur auf. Ich bitte Sie um Entschuldigung, denn ich sehe, dass Sie dieses Thema nicht besonders interessiert, aber ich würde Ihnen gern begreiflich machen, dass wir uns so freier fühlen. Keine Regeln, keine Dogmen, keine literarischen Ticks, weder konventioneller Schreibstil, noch thematische Inhalte. Eine in Wirklichkeit armselige Freiheit, denn sie sind verpflichtet, dabei auf sich selbst gestellt, die Grenzen ihres Stils festzulegen, Regeln aufzustellen, um sie, sobald sie aufgestellt sind, wieder zu umgehen, indem sie sogar vorgeben, dies geschähe aufgrund der nicht vorsehbaren Reaktionen vermutlicher Leser! 
Versuchen Sie nur, angesichts dieser Gegebenheiten ohne Anleitung und ohne Ziel zu schreiben, bei stetiger Bewegung der Feder und mit der Gewissheit bewaffnet, dass Sie nie geschätzt, nie Preise verliehen bekommen werden, weil Sie sicher sein können, niemals dem Urteil eines gewählten Kreises von Literaturliebhabern ausgesetzt zu werden. Unsere Kunst ist tatsächlich eine unentgeltliche Tat. Deshalb verkaufen wir auch kaum etwas.
Jetzt, wo ich Ihnen das hier erkläre, habe ich bereits dreiviertel des Weges zurückgelegt. Ich bin in der Lage den restlichen Teil hinzufügen: Glauben Sie nur nicht, dass ich gern im Dialekt schreibe. Ich möchte Ihnen wirklich mein Herz ausschütten. Zuerst habe ich einen Versuch auf Französisch gemacht. Damals hatte ich einen treuen Freund, ein Literaturkenner, der bei etlichen Verlagen der Hauptstadt Zugang hatte. Ich schickte ihm mein Manuskript mit einem Begleitschreiben zu, in dem ich ihn um seine unverblümte Meinung dazu bat und um seine Hilfe für den Druck des Buches, das aus dem Manuskript entstehen sollte. Er solle vor allem keine Angst haben mich zu verletzen, denn er erweise mir mit seinem kritischen Urteil einen immensen Dienst. Er könne mir auch nicht antworten, falls mein Roman wirklich nichts taugte. Ich wartete einen Monat lang auf seinen Brief, dann brach ein Poststreik aus, der in mir Ungewissheit auslöste. 
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Die Antwort war sicher abgeschickt, aber auf dem Postweg aufgehalten worden. Ich habe ihn dann später, anlässlich einer Reise, wiedergesehen und ihm einen Besuch abgestattet. In Anbetracht seiner Freundschaft, seiner an mich gerichteten Komplimente und seiner ermatteten Hand, mit der er sich ab und zu über die Stirn strich, wurde mir an diesem Abend klar, dass es besser sein würde, auf einen weiteren Versuch zu verzichten. Genau das habe ich getan, obwohl ich mir im Laufe der kommenden Monate bewusst werden sollte, dass er mir weder Treue noch Freundschaft entgegenbrachte. Mir wird bewusst, dass ich ihm seit diesem Tag aus dem Weg gegangen bin und dass er sich nicht bemüht hatte, mit mir zu reden. Ich habe nie versucht, den Grund für diese Trennung herauszufinden, doch eins steht fest, ich habe nie wieder einen Versuch auf Französisch unternommen. Schade …
Und daher werte Freundin, sind Sie gerade dabei sich mit einem „regionalen“ Schriftsteller zu unterhalten, und seien Sie versichert, dass ich, wollte ich mich schriftlich an Sie wenden, ich dieses Adjektiv mit zwei netten kleinen Krallen   versehen würde. Wie das jetzt, kleine Krallen? Genauso bezeichnen wir Ihre Anführungszeichen! Diese Bezeichnung illustriert besser die Kratzer, die ein Eigenschaftswort immer bei jemandem hinterlässt. Nun gut! Aus der Unterhaltung, die wir heute Morgen geführt hatten, werde ich zu einer Art Bekenntnis zusammenfassen, das wahrheitsgemäß genug formuliert ist, um Ihnen als Dokument zu dienen und das, ausreichend umgestaltet, mir jedoch erlaubt, ohne dass ich viel von mir preisgebe, Einfluss auf Worte zu behalten, die wir später noch wechseln werden. Damit werden sie meine Provinciales sein, Briefe, die ich nie werden schreiben können, denn selbst, wenn ich die ganze Welt in meinem Kopf habe, berichtet meine Feder nur ausschließlich von diesem winzigen insularen, von verschwundenen Platanen bedeckten und dem, von der Thalassämie heimgesuchten, Ort.
Nein, ich darf nicht die Berge. Das Herz, meine Liebe, es ist das Herz. Übrigens habe ich vor Jahren ein Gelübde getan. Seit diesem Tag bin ich an die Ebenen der Plätze und des Meeres gebunden, an den Wind, der wie verrückt los jagt, die hohe See gewinnt, sich in Träumen wiegt, dort hinter den Inseln, wo sich das Festland ausbreitet. Der Kontinent meiner Begierden. Wie Altea, werte Freundin, wie Altea am Tag des Libeccio , als sie versuchte dorthin zurückzukehren. Also, gehen Sie dorthin und zwar heute Nachmittag. Nehmen Sie die Umgehungsstraßen, die um die Stadt herumführt und sie überragt. Besichtigen Sie nicht die längs der Strecke liegenden, entvölkerten Dörfer, die wie zu einem Gürtel aneinandergereiht die Stadt umgeben und halten Sie an dem Ort namens „Les Bergeries“ an, denn von dort aus, entdecken Sie die gesamte Stadt. Achten Sie auf den Wind und sollten Sie rauchen, zerdrücken Sie sorgfältig ihre Zigarettenstummeln. Denn von dort aus entfachen sich immer wieder Brände. Denn wer, könnte dann, bei dem lauernden Libeccio, wer soll da noch den Lauf des Feuers aufhalten können? Ach ja ! Vergessen Sie nicht, für mich einige Nepeta  Halme zu pflücken. 
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