4 - Die Glyzinien von Altea

Jaques Thiers

Die Glyzinien 
von Altea

 


Les Editions Albiana
20170 Levie – Corse

ISBN-2-90512
Verweis
Dieser ursprünglich in korsisch verfasste Text ist eine Adaptation in französischer Sprache und wurde vom Autor selbst realisiert.

Erschienen 1990
Verlag  „ Les Editions ALBIANA“
unter dem Originaltitel  „A Funtana d’Altea“
Das Buch erhielt den Preis „Livre Corse 1991“

 

Kapitel 4

 

Guten Tag, werte Freundin. Hätte man Sie nicht vorgewarnt, könnten Sie denken, wir seien wegen des Lärms, ringsum uns, lebendig. Ich hätte einen ruhigeren Ort vorgezogen. Ich frage mich, ob die Aufnahme gut werden wird. Ich fürchte, dass man auf Ihrem Band kaum etwas hören kann, denn diese Juke-Box steht zu nahe. Nein, nein, Sie täuschen sich. Ich denke eher an Sie, denn für mich hat das keinerlei Bewandtnis. Ich bin daran gewöhnt. Amerikanische Musik höre ich bei mir zuhause von morgens bis abends. Sie stört mich überhaupt nicht. Das ist so, wenn man Kinder hat, die noch klein sind … Ob ich sie mag   … ob ich sie mag sie…, das ist ein anderes Kapitel. Ich sage, ja nicht, dass sie mir missfällt, aber hätte ich zu wählen, dann wähle ich unsere Musik und unsere Lieder. Wir sind ein Volk von Sängern. Oh nein ! die anderen. Ich, ich singe selten, und nur gelegentlich. Ich lasse diejenigen singen, die es können. Welche wunderbaren Stimmen wir doch haben!  Was für ein Glück, dass wir sie haben!  Man hat uns ja praktisch schon alles weggenommen, man hat uns das Wort entzogen, aber an die Stimmen hat man damals nicht gedacht! Und jetzt ist es, glücklicherweise, dafür zu spät…
Wir nennen sie die lateinischen Stimmen Damit meinen wir …ach, ich weiß nicht so richtig, wie ich es Ihnen erklären soll. Klare Stimmen wie das Wasser unserer Quellen, wie die reine Luft unserer Gebirge, die Haut unserer Frauen, ein Teint wie Milch und Blut, wie es in unseren Legenden zu lesen ist. Und dann, sollte man die Paghjella  nicht vergessen. Das ist eine althergebrachte Gesangstechnik, eine bis ins Altertum reichende …uralte, man sollte eher archetypisch sagen. Im Wort „paghjella“ findet man „paire“ somit „Paar“   doch wir  singen sie zu dritt. Wie das? Sie kennen die Paghjella nicht! Na so was, dann haben sie nicht wirklich etwas gehört! 
Das ist ein Gesang, den förmlich nach Archetyp riecht. Seinen Ursprung kennt man nicht! Ich habe Lust etwas zu diesem Thema zu schreiben. Ich könnte dann anführen, dass sie unsere am weitesten zurückliegende Kulturform ist. Sie hat Gebirge und Wasserfälle zum Leben erweckt und an den höchsten Bergspitzen unserer Erde gemeißelt. Sie ist dem Flug der Bienen und den intelligenten Begrenzungen der Hirtenpfade gefolgt. Manche Leute behaupten sogar, dass die Menhire von Filitosa, Denkmäler des Echos aus  noch weiter zurückliegenden Zeiten seien, in denen die Paghjella sogar die Stimme der gesamten Menschheit gewesen sei. Sehen sie, es gibt Länder, in denen man tief in den Höhlen Malereien von befremdlich wirkenden Menschen und Tieren an den Felswänden gefunden hat. Nun, bei uns wurde gar nichts gefunden. Aber würde man solche Malereien entdecken, bin ich sicher, es wären Abbildungen von Paghjella-Sänger. Ein Mann mit geöffnetem Mund, eine Hand wie eine Muschel ans Ohr gedrückt, und die anderen Sänger ringsum, die die dritte Stimme und den Bass bilden. Sehen Sie, diese Stimme haben wir aus dem tiefsten Abgrund hervorgeholt. Es wurde auch Zeit. Man sang sie nicht mehr, und dann hat man sie wieder zum Leben erweckt.
Ich war ein kleiner Junge, als ich sie zum ersten Mal gehört habe.  Ich war wohl vier oder fünf Jahre alt. Die ganze Familie war zum Dorf meiner Mutter hinaufgestiegen. Ob es  
zu einer Taufe oder einer Vermählung war, weiß ich nicht mehr. Es gab zwei Säle zum Essen. Die Dorf- und Stadtbewohner taten sich mit Freunden und Vertrauten zusammen. Auf einmal hörte man aus dem hinteren Saal Gesang. Man hörte die Sänger, sah sie aber nicht. Zweifellos hatte sich die Paghjella einen sicheren Unterschlupf im hinteren Saal gesucht. In dem Raum, in dem wir uns befanden, gab es Gitarren- und Mandolinenklänge, und weiter hinten ging der Gesang weiter. Er schien stark und gleichzeitig traurig, wie von derber und ungezähmter Freude geprägt. Ich war beeindruckt, denn zu einem gewissen Zeitpunkt, sei es aus wirklichem Zorn oder sei es auf die Wirkung des Malvoisie  zurückzuführen, beschwerte sich ein Musiker aus der Stadt in vorwurfsvollem Ton, er könne bei dem Radau im hinteren Saal nicht spielen. Zuerst sagten die Sänger nichts,  und der Mann begann wieder die Saiten seines Instruments zu zupfen. 
Doch dann hörte man erneut den dumpfen Gesang mehrerer Stimmen. Und damit nahm eine Zankerei ihren Lauf. Die Gastgeber-Familie konnte weder für das eine noch für das andere Lager Partei ergreifen, und aus lauten Stimmen wurde Gezeter. 
Die Lage spitzte sich zu. Zwischen den Musikern im vorderen Saal und den Paghjella-Sängern im hinteren Saal brach ein Streit aus.  „Ich werde euch zum Schweigen bringen“ rief der Gitarrist, der mit uns im Bus gefahren war, ein Umstand, der zwischen ihm und meinem Vater eine gewisse zufallsbedingte Vertrautheit begünstigt hatte. Man hörte nun, wie sich undefinierbare Stimmen im anderen Raum erhoben, und dann einen Schrei: „Schmutziger Lucchese!“  Den Frauen gelang es, indem sie sich dazwischen stellten,  die wachsend erhitzten Gemüter zu besänftigen: Vergessen waren Taufe und Verwandtschaftsbande. Die Frauen verbrachten den Rest des Abends damit, ihre Ehemänner zu besänftigen, die von Zeit zu Zeit wieder aufs Tapet brachten, welche jeweiligen Verdienste der Musik und dem beanstandenden Gesangs zuzuschreiben seien, und die ihnen dazu dienten, Kommentare zur Herkunft der Stadtbewohner- und Bergbewohner abzugeben. Bei der Rückfahrt hatten mein Vater und sein neuer Kamerad darüber gescherzt, und sie imitierten die Stimmen der Paghjella-Sänger, indem sie sie ins Lächerliche zogen. Die Meinung des Gitarristen war unwiderruflich: dass sei ein arabischer Gesang, nicht mehr und nicht weniger. Und falls man beabsichtigte, diese barbarische und heidnische Tradition beizubehalten, solle man sich nicht einbilden, auf ihn zählen zu können.
20 Jahre danach, - ich war inzwischen ein junger Mann, - wurde die Platte eines Musikwissenschaftlers herausgebracht: Man konnte im einführenden Text lesen, dass die aufgenommene Paghjella der letzte Überrest einer fast ausgestorbenen Gesangsform sei. Auf der Plattenhülle wurde die Frage gestellt, woher dieser Gesang stamme, den man mit dem Geschmack von Meer und Salz vergleichen könne, eine Vorstellung, die ich sehr schön, aber auch sehr befremdlich fand, denn hier, an der Küste, hatten wir noch nie eine Paghjella gehört. Und doch, hätte man die Ohren gespitzt, so hätte man einige Fetzen davon an den Kellereingängen aufschnappen können, in die sich die Dorfbewohner begaben, um das Geld auszugeben, das sie aus ihren Weidevieh-Verkäufen auf dem benachbarten Markt herausgeschlagen hatten. Genauso wie bei so vielen anderen Zeichen, konnte das Ohr diese Art Klänge aber nur wahrnehmen, wenn es vorab darauf vorbereitet worden war. Und Sie werden mir Recht geben, verehrte Freundin, dass es in Anbetracht des Umstandes nämlich bei dem angeheiterten Stimmengewirr in den Gassen, schier unmöglich  ist, dieses Zeugnis vollendeter archaischer Stimmkunst aus dem Mittelmeerraum mit eigenem Ohr zu vernehmen. 
Und dennoch wurde die Paghjella oft im Gymnasium, während der Pausen oder in den Gängen von den aus den Dörfern stammenden Burschen der Insel gesungen, um die Melancholie des Bauern zu vertreiben, der andauernd dem Sarkasmus seiner Mitschüler aus der Stadt ausgesetzt war: „Na, Bauer,  hast du deine Ziege zu Ende gemolken?“ So könnte man meinen, dass die Paghjella das Klagelied  des Internatsschülers war, der durch diese Art von vokaler Kommunikation ohne Gegenüber  versucht, die Verbindung zu seinem Milieus und zu den Menschen seiner Region aufrechtzuerhalten. Das hat wohl auch einer unserer Politiker vor einigen Tagen sagen wollen. Als Gast bei einer dieser Radiosendungen, die sich mit lokalen Berühmtheiten befassen, erinnerte er sich an die Zeiten im Gymnasium, als er und seine Kameraden auf den Fluren des Internats die Paghjella gesungen hatten; Plötzlich schwieg er, wurde nachdenklich und nostalgisch und bemerkte schließlich in einem halbironischen – halbernsten Ton, dass die Paghjella wohl der Blues der in der Stadt exilierten Schüler sei. Der Vergleich wird Sie erstaunen, ich selbst finde ihn sogar anfechtbar, aber umso bedauerlicher für uns. Sicherlich gibt diese geistreiche Bemerkung Anlass zum Nachdenken. Doch ich will Ihnen in diesem Augenblick eigentlich nur begreiflich machen, dass man damals die Paghjella sehr wohl singen und gleichzeitig nicht wirklich vernehmen konnte. Damit steht fest, dass Sinneswahrnehmungen ohne den Intellekt zu nichts führen. Kann man sagen, dass die Menschen, die Ereignisse, die Welt selbst, wirklich existieren, wenn man sie weder sieht, noch hört? 
Später dann kamen die Zeiten in denen unser Volk zu den Spuren seiner Herkunft zurückgefunden hat. Oh Verzeihung! Das ist eine neue Sprache, in der wir uns untereinander verständigen: Ich meine, dass wir begonnen haben, uns für unsere eigene Kultur zu interessieren. Was nun die Paghjella betraf, 

liefen die Dinge genauso ab wie damals, als wir die Gräben erstürmten, um Brottroge, Kupferbottiche, Öllampen und das Übrige  wieder an uns zu reißen. Wir haben uns gierig darauf gestürzt. Doch nach reichlicher Überlegung glaube ich, dass maßvolleres Vorgehen angebrachter gewesen wäre. Aufgrund meiner Wesensart, aber auch aufgrund meines intellektuellen, von der Lektüre französischer Klassiker geprägten Bildungsweges ertrage ich keinerlei Hektik: Ein „honnête homme“ ist ein besonnener Mann – das könnte ein Sprichwort sein, das aber sicher nicht hier entstanden ist.  Und doch, genau so war’s.
Wir haben die Paghjella aus den Kellern und aus den Hinterzimmern der Cafés hervorgeholt. Sie war auf öffentlichen Plätzen zu hören, hatte sich auf der ganzen Insel verbreitet, hatte die Bühne im Sturm erobert und sich dort etabliert. Und genau da sind wir jetzt. Sehen Sie die jungen Leute dort, in ihren Jeans und schwarzen Samtjacken? Ich kenne sie nicht, vermute aber, wegen ihres Erscheinungsbildes, dass sie die Paghjella machen. Wir sagen nicht die Paghjella „singen“, sondern die Paghjella „machen“ . Erkennen Sie an, wie das Wahre und Besondere durch das Verb ausgedrückt ist? So zusammengefasst, ist die Paghjella ein Lebensvorgang und hat eine biologische Funktion, wie atmen oder essen. Wir leben von der Hoffnungslosigkeit und der Paghjella. Was die Hoffnungslosigkeit angeht, werde ich Ihnen bei Gelegenheit sagen, was ich darunter verstehe. Was die Paghjella betrifft, wurde es mir ermöglicht, dass ich vor einigen Jahren den Musikwissenschaftler, Verfasser der besagten CD, begegnete. 
Einige junge Leute machten die Paghjella. Es war eine dieser Abende, die wir „veillées“ nennen, also ein geselliger Abend an denen gesungen und vorgetragen wird. Denn von Zeit zu Zeit, lassen wir gern die alten Zeiten wieder aufleben. Der Musikwissenschaftler saß neben mir. Im Saal erschallte der Königsgesang  des Volkes. Die Paghjella. Die der Gehängten des Niolo . Diese bezieht sich auf ein geschichtliches Ereignis aus der Zeit der französischen Eroberung. Das hier erkläre ihnen später. Einer trug zwei Verse vor und hob mit der Mittelstimme  an, Ein anderer begleitete ihn mit der Oberstimme . Der Dritte fügte sich mit der Unterstimme  ein. Sie harmonierten wie Glockenschläge. Es gab noch einen Vierten, der ebenfalls mit der Unterstimme einfiel, doch nicht ohne Mühe. Vermutlich war er einer aus dem Exil, vom Festland, der den Bezug zur Muttererde verloren hatte und nur mit Mühe die Furche fand, die von der kulturellen Identität gezogen wird! Die zweite, die Mittelstimme, war kraftvoll und harmonisch, entfaltete sich in Echos , ohne dass der sprachliche Inhalt des Liedtextes nur im Geringsten beeinträchtigt wurde. Sein ganzer Körper drückte das Leiden des belagerten, angegriffenen Volkes aus, das an Leib und Seele verletzt wurde. Der dritte, machte einen Schritt vorwärts, beugte sich und streckte seinem Gefährten die Hand entgegen, bevor er mit der Bass-Stimme einsetzte. Die Oberstimme erklang machtvoll, wendete den Kopf, erhob sich auf die Zehenspitzen, streckte den freien Arm und formte mit der Hand ein Garbenbündel zum Zeichen tiefster Kommunion. Der Königsgesang ertönte, und mit ihm die Geschichte unseres Volkes. Besonders merkwürdig war, dass Sänger und Publikum glaubten, es handele sich um ein altes Lied, das sicherlich aus der Zeit der Hinrichtungen stammte. Ich lächelte, weil ich wusste, dass es erst vor etwa zehn Jahren von einem von uns geschrieben worden war. Nun, sie wissen schon, Altes und Neues, wer sich einmal darauf einlässt, muss pfiffig genug sein, um es heil zu überstehen. Verzeihen sie, wenn ich betone, welche Lehre aus dieser Episode zu ziehen ist: wir sind so geschaffen, dass wir aus Neuem Altes machen und mit dem Alten nichts machen. 
Der Musikologe schien mir traurig zu sein. Irgendwann stellte ich fest, dass er weg war. . . Nein, ich bin so frei und sage Ihnen, dass ich welche kenne, die nicht traurig sind.  Nun weiß ich nicht, ob es die Musikwissenschaftler durch und durch befriedigt, aber sie machen kein saures Gesicht, wenn sie Paghjelle aus der heutigen Zeit hören. Doch was wollte ich Ihnen eigentlich sagen? Ach ja, ich wollte Ihnen sagen, dass die Paghjella ein Gut ist, das uns gehört,  selbst wenn sich für jeden von uns in seinen Kindheitserinnerungen keine Spuren davon finden.
Nehmen Sie beispielsweise meinen Fall: Sie haben begriffen, dass die Paghjelle die ich in meiner Kindheit gehört habe, in mir dasselbe auslöst wie der Geruch von Käse, das Iahen der Esel, die Schreie, die wir als Kinder beim Ciccia-  Spiel auf dem Schulhof ausstießen. Später dann wechselten die Gefühle bei den anderen und mir. Deshalb haben Sie nichts gehört, wenn Sie nie eine Paghjella gehört haben.
Gehen wir also ein Stückchen weiter, denn diese Rätschen beginnen gleich zu rasseln , und wenn wir noch länger warten, werden sie uns vollkommen taub machen.